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Er meldete sich als erster.
Eines Tages, ich war fünfzehn, schickte er mir eine Musik. Sie hat mein Leben verändert. Oder viel mehr: Sie hat mich am Leben erhalten. ohne sie wäre ich längst tot. Seither schreibe ich ihn oft, manchmal nur ein paar flüchtige Zeilen an der Tischkante, während ich an einem Buch arbeite, dann wieder lange Briefe, nachts, wenn der Himmel sternenlos und schwer über der orangenfarbenen Stadt hängt. Wenn ihm danach ist, antwortet er mir, das kann während eines Konzerts sein, in der Halle eines Flughafens oder an einer Straßenecke, und immer wieder bin ich überrascht, überwältigt.
Hier nun das Wesentliche unseres Austausches: seine Stücke, meine Briefe. Mozart kommt in Tönen zu Wort, ich bin Texten. Mehr noch als ein Meister der Musik ist er für mich ein Meister in Sachen Weisheit geworden, er lehrt mich Kostbares: Staunen, Milde, Heiterkeit und Freude…
Wie nennt man so etwas? Freundschaft? In meinem Fall handelt es sich um Liebe, gepaart mit Dankbarkeit.
Was ich anbetrifft…
Mit fünfzehn war ich das Leben leid. Wahrscheinlich muss man so jung sein, um sich so alt zu fühlen…
Ohne die Hand, die mich zurückhielt, hätte ich irgendwann Selbstmord begangen. Ein Tod, der mich unwiderstehlich anzog, mir Linderung versprach, eine geheime Zuflucht, die mir erlaubte, unbemerkt Schluss zu machen mit meinem Schmerz.
Woran leidet man mit fünfzehn?
Genau daran: dass man fünfzehn ist. Man ist kein Kind mehr und noch kein Mann. Man schwimmt mitten im Fluss, hat das eine Ufer verlassen und andere noch nicht erreicht, schluckt Wasser, geht unter, kommt wieder hoch, kämpft gegen die starke Strömung, mit einem Körper, der jung ist und unerprobt, man ist allein, ringt nach Luft.
Plötzlich, mit fünfzehn, schlägt sie brutal zu, die Wirklichkeit; tritt ein und richtet sich ein. Und aus ist es mit den Illusionen. Als kleinerer Junge konnte ich noch alles sein: Flieger, Polizist, Zauberkünstler, Feuerwehrmann, Tierarzt, Automechaniker und Prinz von England; auch meiner äußeren Erscheinung waren keine Grenzen gesetzt, mal war ich groß, mal schlank, mal untersetzt, muskulös oder elegant; ich schrieb mir die vielfältigsten Begabungen zu, verstand mich auf die Mathematik, die Musik, den Tanz, die Malerei, die Bastelei; ich besaß ein Talent für Sprachen, war der geborene Sportler und verstand mich auf die Kunst des Verführens, kurzum ich konnte mich, weil es die Wirklichkeit in meinem Leben noch nicht gab, in alle Himmelsrichtungen entfalten. Wie schön war doch die Welt, solange sie nicht wirklich war…Mit fünfzehn aber schrumpfte mein Aktionsfeld, meine Aussichten schwanden, kippten wie Zinnsoldaten, meine Träume nicht anders. Fuhren reihenweise in die Grube.
Lieber Mozart,
die Krankheit hat zugeschlagen.
Heute habe ich eine Frau verloren, die ich liebte. Sie hat sich zum Milliardenheer der Toten gesellt, der dahingegangen Menschheit.
Bald wird unter der Erde ein Körper, den ich gefühlt, umarmt und manchmal sehr fest an mich gedrückt habe, zu nichts.
Ich weiß nicht, was widersinniger oder unwirklicher ist: ihr Tod oder mein Überleben.
Mir fehlt die Zeit, darüber nachzudenken, ich muss mich um andere kümmern, die mich ebenfalls brauchen, gleich ob sie krank sind oder nicht.
Zum Glück gibt es Dich. Deine Musik ist und bleibt meine einzige Vertraute.
Lieber Mozart,
heute jährt sich der Tag, an dem ich die Frau verloren habe, die ich liebte.
Zwölf Monate nach ihrem Tod bin ich noch immer wie vor den Kopf gestoßen, stehe betäubt, stumm, mit trockenen Augen und leeren Händen an ihrem Grab und verstehe noch immer nicht, dass ich sie nicht zurückhalten konnte…
Sie hat all die Erinnerungen mitgenommen, als gehörten sie ihr allein; und nun sind sie mir für immer verschlossen. Ausgenommen die Augenblicke davor, als wir Freunde waren, und die Augenblicke danach, als wir wieder Freunde wurden. Die sechs Jahre unserer Liebe sind mit ihr verschwunden.
Kommt man über das Fehlen eines Menschen hinweg?
„Man gewöhnt sich an den Schmerz, darüber hinweg kommt man nicht“, heißt es.
Gut, aber um sich an den Schmerz zu gewöhnen, müsste man erst einmal Schmerz empfinden; nur schaffe ich es nicht. Ich bin aufgerieben, zermürbt und abgestumpft in meinem Empfinden.
„Du wirst sehen, die Natur hat für alles gesorgt: Du wirst immer seltener daran denken.“ –
seltener daran denken, das wäre schön, das hieße bereits, daran denken, aber dazu ich bin ganz und gar nicht unfähig. Mit Trauer daran denken, mit Freude, mit Wut, mit Wehmut, mit Sehnsucht, womit auch immer, könnte ich nur wenigstens daran denken…
jedes Mal wenn der Name dieser Frau auftaucht, wird es dunkel in mir, mein Denkvermögen setzt aus. Deshalb neige ich dazu, alle zu meiden, die sie gekannt haben, nur damit sie nicht auf sie zu sprechen kommen und diese Kurzschlussreaktion bei mir auslösen; deshalb bin ich auch allein, habe nicht einmal mich mehr.
„Trauerarbeit leisten…“
Wie denn? Wo ich nur auf der Stelle trete.
Bitte, Mozart, hilf mir.
Mach, dass ich wieder Herr meiner Vergangenheit werde, wieder Zugang zu ihr finde. Ein Stück meines Lebens ist dem Vergessen anheimgefallen, eine glückliche Zeit, arglos, unschuldig, fröhlich – für sie und für mich. Gib dem Nichts keine Chance! |
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